Viel wird geschrieben zum Wandel der Arbeitswelt. Die Digitale Transformation ist in aller Munde. Immer neue Studien skizzieren wahlweise eine positive oder beängstigende Zukunft. Tagungen und Kongresse beschäftigen sich mit dem Phänomen New Work.
Was der Diskussion fehlt, sind aber persönliche Einblicke in den Wandel der Arbeitswelt – weg von Statistiken und Keynotes.
New Work – Wandel oder Hype?
Zuletzt war ich auf der New Work Experience 2018 in Hamburg. Dort war ich nominiert für den Award als „New Work Querdenker“.
Aus vielen Vorträgen habe ich tolle Erkenntnisse und Beispiele mitgenommen. Aber es gab auch etliche Sessions die nicht viel mehr waren als eine Aneinanderreihung leerer Worthülsen. In wie weit ist der Wandel wirklich Realität?
Persönliche Video-Porträts zum Wandel der Arbeitswelt
In diesem Zusammenhang wurde aus meiner Sicht zu wenig Augenmerk auf eine tolle Aktion zum Wandel der Arbeitswelt gelegt:
Frank Nürnberger porträtiert mit seinem Projekt work21.de – Arbeiten im 21. Jahrhundert Menschen in verschiedenen Berufen per Video und lässt sie über die Veränderungen ihrer ganz konkreten Arbeitswelt sprechen. Weg von Worthülsen, hin zum konkreten Arbeitsleben.
Hallo Herr Nürnberger. Stellen Sie sich und Ihre Projekt doch bitte kurz vor.
Ende 2015 stolperte ich in meiner Fotobuch-Sammlung über August Sanders fotografisches Meisterwerk „Menschen des 20. Jahrhunderts“. Sander, der wohl berühmteste deutsche Fotograf überhaupt, hat hauptsächlich in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts ein geradezu enzyklopädisches Mappenwerk der Menschenfotografie geschaffen.
Ein Schwerpunkt seiner systematisch sammelnden Fotografie war der arbeitende Mensch in all seinen Facetten und Beschäftigungen.
Sanders Systematik beruht auf der Idee des Ständestaates. Sie war möglicherweise schon damals eine präzise Beschreibung der gesellschaftlichen Realitäten.
Die Portraitierten in vielen seiner Bilder schauen direkt in die Kamera und schaffen über fast ein Jahrhundert hinweg eine sehr direkte Verbindung zum Betrachter. Seine Bilder aber haben in ihrer Sachlichkeit und Vergleichbarkeit einen ungebrochenen ästhetischen Reiz und sozialdokumentarischen Wert.
Die Digitalisierung als Ausgangspunkt
Warum jetzt und warum Videos?
In den 1920er Jahren sorgte die fortschreitende Industrialisierung für Umbrüche und Veränderungen. Heute wird diese ständige Umwälzung des Arbeitslebens vom Computer und möglicherweise bald von der künstlichen Intelligenz vorangetrieben.
Genau jetzt, in dieser neuen Phase der Veränderung, wollte ich bestehende Berufsbilder und sich neu entwickelnde Berufe mit meiner Fotografie festhalten.
Ergänzend dazu habe ich das Medium des Videointerviews in mein Projekt aufgenommen, weil ich den Menschen, die ich porträtiere, die Möglichkeit geben möchte, ihre eigene Sicht auf ihre beruflichen Situation darzulegen. Darüber hinaus bitte ich jeden, mich zum Nächsten aus der gleichen Branche zu schicken. So überlasse ich auch die Auswahl der Menschen meinen Portraitsubjekten selber. Das macht das Projekt für mich immer wieder spannend und es entstehen unvorhergesehene Begegnungen.
Ist Ihr Projekt also ein Internet-Portal oder sogar eine Art Blog zum Thema Berufswahl?
Ich finde es großartig, wenn mein Projekt auch auf diese Weise genutzt wird. Es gibt sogar bereits eine Interessensbekundung eines Berufsinformationszentrums, gemeinsam an diesem Aspekt zu arbeiten.
Zentral für mich sind jedoch immer künstlerische Überlegungen. Ich möchte in diesem Projekt – im Sinne der „Neuen Sachlichkeit“ – ein visuell kohärentes Werk schaffen, das durch die inhaltliche Vielfalt auf der einen Seite und eine visuelle Strenge auf der anderen Seite einen interessanten Kontrast schafft. In temporären und ständigen Ausstellungen sollen die Bilder und Videos neben ihrem Informationsgehalt den Betrachtern vor allem eine ästhetische Erfahrung bieten.
Die Digitalisierung als Chance für mehr Menschlichkeit
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Menschen in ganz verschiedenen Berufen zu fragen, wie sich ihr Arbeitsumfeld verändert?
Mich hat interessiert, wie Berufstätige diesen Prozess selber wahrnehmen und in welcher Weise sie sich diesen Veränderungen stellen.
Unsere Arbeitswelt ändert sich mit zunehmenden Tempo. Ich interessiere mich seit Jahren für diese Diskussion und für die Frage, ob die Menschen, deren Tätigkeiten in wenigen Jahren möglicherweise so nicht mehr existieren werden, die Möglichkeit bekommen, sich für neue, komplexere und kreativere Tätigkeiten zu qualifizieren.
Aus meinen nun über 100 Interviews glaube ich herausgehört zu haben, dass die meisten die neuen Technologien proaktiv in ihre eigene Arbeit integrieren und ihre eigene Tätigkeit damit auf ein neues Level heben. Einzelne Tätigkeiten werden in Zukunft nicht mehr von Menschen direkt ausgeführt, sondern es werden die Prozesse überwacht und optimiert.
Vor allem aber werden Kapazitäten frei für mehr Begegnungen von Mensch zu Mensch, mehr Beratung, mehr Gespräche.
Mein persönlicher Blick auf New Work im öffentlichen Dienst
Wer wissen möchte, wie ich den Wandel des Arbeitens im öffentlichen Dienst, speziell in der Öffentlichkeitsarbeit, und mit starkem Bezug zu New Work erlebe, der kann gerne einen Blick in mein Video werfen:
Wie viele Personen haben Sie vor, zu filmen? Wann glauben Sie, einen umfassende Ist-Stand erhoben zu haben?
Ich habe keine Zahl von Portraits im Kopf, die ich für nötig halte, um die heutige Arbeitswelt umfassend darzustellen. Die Veränderungen sind im Zeitverlauf zudem so schnell, dass man dieses Projekt auch ewig weiterführen könnte.
Mein Ziel für die nächsten 10 Jahre ist es, Menschen in möglichst allen Branchen und Wirtschaftszweigen zu portraitieren. Da werden wohl viele hundert Interviews zusammenkommen. Wenn es mir gelingt, meinen derzeitigen Schnitt von etwa einem Portrait pro Woche zu halten, ergäben sich 50 Portraits pro Jahr und 500 in 10 Jahren. Ich arbeite darauf hin, mich komplett diesem Projekt zu widmen, so dass ich irgendwann 5 oder gar 10 Interviews pro Woche anfertigen kann, dann komme ich in eine ganz andere Größenordnung.
Um unsere Arbeitswelt wirklich umfassend darzustellen, ist es irgendwann auch notwendig, Berufe zu zeigen, die in Folge der internationalen Arbeitsteiligkeit in Deutschland nicht existent sind. Ohne die Produktionsarbeit in Asien, ohne Servicedienstleistungen in Indien ist unsere Wirtschaft nicht mehr vorstellbar.
Sich neu erfinden als Erfolgsfaktor des Wandels
Was waren die Highlights? Gibt es Videos, die bei Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben sind?
Bei vielen meiner Portraits – gerade im Bereich „Kunst, Kultur und Unterhaltung“, aber auch im Bereich „Internet und Digitales“ – haben mich Menschen beeindruckt, die sich und ihre Arbeit im Grunde selbst erfunden haben. Menschen, die sich nicht in vorgefertigte Schablonen begeben haben, sondern sich und ihre Individualität auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich verkaufen.
Eine Gesellschaft, die nur aus Entrepreneuren und dauerkreativen Erfindern besteht, kann nicht bestehen.
Das ist allerdings auch eine Typfrage. Dieses ständige „Sich neu erfinden“ liegt nicht jedem. Ich habe genauso großen Respekt für die Menschen, die eine notwendige und nicht immerwährend kreative Arbeit korrekt und mit Engagement ausüben. Dies wird bisweilen nicht genügend wertgeschätzt.
Können Sie aus den abgedrehten Videos zusammenfassen, was den Kern des aktuellen Wandels in der Arbeitswelt ausmacht? Wo liegen die Schwerpunkte?
Der Wandel wird von der Digitalisierung getrieben. In allen Bereichen bekommen die Menschen Werkzeuge an die Hand, mit denen sie produktiver werden und mehr auf individuelle Kundenwünsche eingehen können.
Natürlich existiert bei manchen die Angst, dass das Werkzeug den Menschen ersetzen könnte. Aber die meisten meiner Interviewpartner setzen neue Technologien sehr proaktiv ein.
Hier wäre möglicherweise eine gesellschaftliche Kampagne hilfreich, die Mut macht.
Es braucht möglicherweise in manchen Bereichen Innovationsanreize und Weiterbildungschancen, damit sich jede und jeder aus dem neuen digitalen Werkzeugkasten das heraussuchen kann, um künftig seinen Kunden einen noch größeren Wert anbieten zu können.
Ein Video-Projekt als Basis wissenschaftlicher Forschung?
Wenn Sie das 500ste Video abgedreht haben; Was passiert mit den Aussagen? Wäre das nicht ein tolles Thema für eine wissenschaftliche Analyse?
Falls sich dann eine junge Wissenschaftlerin oder ein junger Wissenschaftler dafür interessieren sollte, stelle ich gerne das Material und mein Hintergrundwissen zur Verfügung. Ich selber möchte mich auf die Sammlung dieser Bilder und Interviews konzentrieren, freue mich aber, wenn andere ein Interesse an der Auswertung dieser Sammlung haben sollten.
Sie haben neben Ihren freien Serien nun auch Porträts in Kooperation mit Unternehmen wie XING oder Empolis Information Management erstellt. Auf welche Weise möchten Sie künftig mit Partnern zusammenarbeiten?
Um bestimmte Berufe und Berufsbilder zu zeigen, ist eine partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Unternehmen die Voraussetzung. Ich habe auch keine Berührungsängste, wenn es um die Kommunikationsziele von Unternehmen geht. Auch die Künstler und IT-Freiberufler, die ich in den freien Serien vorgestellt habe, haben ein Interesse an einer korrekten und durchaus auch positiven Darstellung ihrer Person und ihrer Arbeit. Ich sehe mein Projekt hier auch als Plattform der Selbstdarstellungswünsche.
Drei weitere Kooperationen sind derzeit in der Vorbereitung. Einmal liegt der Schwerpunkt – aus Unternehmenssicht – im Bereich Employer Branding, zweitens geht es um die Darstellung der Menschen und Individuen hinter einem komplexen technischen Produkt und drittens ist konkrete Nachwuchswerbung die Zielsetzung. Ich finde solche Kooperationen extrem spannend und freue mich immer über neue Anfragen.
Infos zur nächsten Ausstellung
Wann und wie können sich Besucher Ihre work21-Fotoausstellung anschauen?
Ab dem 15. Juni 2018 stelle ich das Projekt work21 im Atelier Kirchner, Grunewaldstraße 15, 10823 Berlin-Schöneberg aus. Info und Öffnungszeiten gibt es unter www.andrekirchner.de/atelier.
Unter jedem Portrait gibt es nun einen QR-Code, der direkt zum Interviewvideo führt. Das heißt, man hält das Handy mit entsprechender App auf den QR-Code unterhalb des Portraits und schon wird das Interview abgespielt. Gerade jüngeren Betrachter und alle, die sich einen gewissen Spieltrieb bewahrt haben, machen das fast schon automatisch.
Natürlich ist dann da noch meine Webseite http://work21.de/
Vielen Dank Herr Nürnberger, für dieses Interview. Ich hoffe sehr, dass Ihr Projekt deutlich mehr Aufmerksamkeit bekommt. So einen umfassenden, realistischen Einblick in den Wandel unserer Arbeitswelt zu erhalten – fern von anonymen Statistiken oder leeren Worthülsen – ist einmalig.
Ich drücke Ihnen die Daumen für viele weitere spannende Video-Interviews.
Sehr gut. Danke!