Wir diskutieren und schreiben aktuell viel über die Arbeitswelt 4.0. Die Diskussion über Digitalisierung, Vertrauen, Führung, Eigenverantwortung oder Hierarchieabbau ist genauso faszinierend, wie die vielen Best Practices. Im Rahmen der Blogparade #HRLab: Müssen Personaler zu Experimentier-Agents für „arbeiten 4.0“ werden? Und wenn ja, wie? möchte ich etwas näher auf die Rolle von HR eingehen und darauf, dass die Erwartungen an das Personalmanagement diesbezüglich (zu) hoch sind. Treiber soll das Personalmanagement sein. Experimentieren und Ausprobieren wird gefordert – und das bitte agil. Nicht selten wird dabei ein Idealbild des Arbeitens skizziert, was in der Praxis schlicht (noch) nicht möglich ist und HR daher überfordert.
Die Struktur-Realität
HR soll Treiber sein, Ideen und Innovationen nicht nur selber liefern, sondern auch die Rahmenbedingungen dafür schaffen. In der Realität der Unternehmen werden Vorschläge gern gesehen, aber bitte immer schön entlang des Dienstweges. Entscheidungen werden dann innerhalb klar geregelter Hierarchien getroffen. Kein Vorschlag und kein Konzept, dass nicht von zig Führungskräften gelesen (und im Sinne von Machtinsignien abgezeichnet) wird, bevor eine Entscheidung fällt. Ist eine dieser Hierarchien anderer Meinung, ist die Diskussion in der Regel zu Ende. Wehe dem, der seine Überzeugung lebt und mit Argumenten dagegen hält.
Wie soll das dann funktionieren, wenn Vorschläge gemacht werden, die die Strukturen und das bisherige „Führen“ in Frage stellen? Führungskraft zu werden, ist in der Regel ein notwendiger Schritt in der Karriere – ob man will oder nicht. Folge ist, dass der Schritt zurück nicht vorgesehen ist. Aus Führung zurücktreten? Freiwillig? Ohne Gesichtsverlust unmöglich. Wer sich viele Jahre „nach oben“ gearbeitet hat, wird nur sehr ungern die mit der Position verbundenen Privilegien aufgeben.
Klar, ist es ureigene Aufgabe von HR, daran etwas zu ändern, aber solange es den Dienstweg noch gibt, stehen die Chancen schlecht. Eine neue Kultur des Arbeitens lässt sich nicht allein „von unten“ realisieren. Es bedarf eines glaubwürdigen Wandels bei den Entscheidern. Der Personalabteilung allein die Verantwortung für die Veränderung der Arbeitswelt zu zu schieben, ist zu einfach. Genauso wenig werden Sales oder die Produktentwicklung einen Kulturwandel im Unternehmen erreichen. Ohne das Commitment „von oben“ kann HR dieses Problem nicht lösen und stößt schnell an seine Grenzen.
Die Business-Realität
Auf dem Personalmanagement-Kongress durfte ich den beeindruckenden Vortrag über Microsofts Arbeitskultur folgen. Für mich aber ebenso wichtig war die anschließende Frage aus dem Publikum von der Personaldirektorin der Stadt Wien: Wie lassen sich solche Arbeitsmodelle in ein Unternehmen wie der öffentlichen Verwaltung integrieren, in dem eine Vielzahl von Mitarbeitern in Bürgerbüros zu festen Öffnungszeiten, im ÖPNV auf Schienen oder auf Straßen, in Kanälen und in Gärten arbeiten? Lassen wir unseren Müll morgen digital durch Heimarbeiter abholen? Unvorstellbar und nicht verwunderlich, dass man die Antwort schuldig blieb.
Natürlich ist in Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung noch viel Potential zu heben. Gerade die Verwaltung tut sich noch schwer mit ihrer Öffnung und der Kundenorientierung in Verbindung mit der Digitalisierung im Sinne des E-Governments. Dabei sind diese Themen in meiner Wahrnehmung das innovativste, was der öffentliche Dienst zu bieten hat und eine riesige Chance. Lichtblicke sind da z.B. die Open Government Tage in München, bei den Interessierte kostenlos teilnehmen und zu Open Data, Digitalem Engagement, Social Media und Smart City mit diskutieren können.
Aber das Problem ist doch ein anderes und nicht allein von HR zu lösen: Produkte und Dienstleistungen sind unterschiedlich und benötigen auch eine differenzierte Betrachtung. Microsoft hat nun einmal ein ganz anderes Businessmodell als der öffentlichen Dienst und auch andere Kunden und Mitarbeiter. Die Arbeitswelt 4.0 ist nicht überall gleichermaßen realisierbar. Die gesamte Diskussion erfolgt aus meiner Sicht zu undifferenziert im Sinne eines „Alles oder Nichts“. HR kann so die Anforderungen nicht erfüllen und sollte es auch nicht. Der Beitrag zum Unternehmenserfolg ist die Richtschnur und nicht eine pauschale Einführung der „New Work“.
Die Kunden-Realität
Angst vor Jobverlust und gefühlte Bedrohung durch die Digitalisierung gibt es. Ängste vor den eigenen Daten unkontrolliert im Netz sind angesichts aktueller Berichte und der Sensibilität von Personaldaten nicht ganz von der Hand zu weisen. Auch sind nicht alle Kunden digitalkompetentbiszumgehtnichtmehr. Schon E-Recruiting überfordert viele Führungskräfte, die sich die Unterlagen dann bitte noch ausdrucken lassen und damit den Medienbruch perfekt machen. Das ist die Realität bei Mitarbeitern und Bewerbern und damit bei den Kunden von HR. Wenn HR Dienstleister ist, dann wäre es nicht gut, nun einfach mal mit der Arbeitswelt 4.0 los zulegen, ohne Ängste und Bedürfnisse Ernst zu nehmen.
Die Mitarbeiter-Realität
Selbst wenn Entscheider glaubhaft Strukturen aufbrechen oder die Digitalisierung in einigen Jahren Bürgerbüros überflüssig machen – ein drittes Problem ist aus meiner Sicht viel schwerwiegender. Die Beiträge Wer motiviert mich, bitte!? auf Hrweb.at und Haben New Work Verweigerer am Ende doch Recht? von Stefan Scheller im Rahmen dieser Blogparade zeigen, dass ich nicht allein mit der Meinung bin, dass nicht nur Führungskräfte, sondern auch Mitarbeiter am „arbeiten 4.0“ einen großen Anteil haben.
Schaut man auf die jährlichen Untersuchungen zum Mitarbeiterengagement, so ist festzustellen, dass ein bedeutender Teil der Beschäftigten ihren Job „9-to-5“ macht. Verantwortung? Demokratie? Nein, danke! Lässt sich dies mit den Ideen der Arbeitswelt 4.0 vereinbaren? Gelingt es bei aller Demokratie und Eigenverantwortung „Nichtwähler“ zu akzeptieren? Über die Gründe kann spekuliert werden. Bei einem ist es Frust, der zur Aufgabe innovativen Arbeitens geführt hat. Hier lässt sich ohne Zweifel Potential wiederbeleben.
Aber was ist mit dem Teil der Belegschaft, die nicht wollen … oder nicht können? Mitarbeiter, die einfach nur ihren Job machen, sind für das Bestehen eines Unternehmens überlebenswichtig. Nicht wenige Mitarbeiter brauchen auch schlicht Anleitung, ja sogar klare Anweisungen, um Arbeiten zu können. Oder was ist mit den Kollegen, die lieber im stillen Kämmerlein vor sich hin arbeiten, nur damit niemand ihre Ideen und Arbeitsergebnisse „klaut“? Kooperatives Arbeiten an einem gemeinsamen Ziel wird da schwierig. Und jeder kennt sicherlich Kollegen, die regelmäßig im richtigen Moment die Erledigung ihrer Aufgaben „nach oben“ melden, um „motiviert“ zu werden. Wie sollen diese Menschen im Unternehmenssinne eigenverantwortlich arbeiten und sich selber motivieren, wenn keine Hierarchie mehr da ist? Das Team übernimmt diese Rolle nur bedingt und Konflikte sind hier vorprogrammiert.
Ich bin ausdrücklich für hierarchiefreies und eigenverantwortliches Arbeiten, aber in der aktuellen Diskussion wird so getan, als ob dies die Erlösung der Mitarbeiterschaft sei und HR bitte nur umzusetzen hat. Das dann alle glücklich und zufrieden sind, glaube ich nicht. Die damit verbundenen Arbeitsweisen werden genauso zu (anderen) Problemen führen, wie die bisherigen. Der Wandel der Führungskräfte ist daher ebenso wichtig wie die Bereitschaft der Mitarbeiter, „arbeiten 4.0“ zu leben. Eine Sichtweise, die meiner Ansicht nach zu kurz kommt. Natürlich hat HR in diesem Zusammenhang eine besondere Verantwortung. Aber auch aus dieser Perspektive wird das Personalmanagement nicht allein einen Wandel erwirken können.
Die HR-Realität
Personalabteilungen agieren heute in der Regel als Verwalter – ob sie sich nun Personalreferenten oder Business Partner nennen oder nicht. Untersuchungen belegen dies vielfach. Natürlich macht HR einen professionellen Job: Lohn, Urlaub, Teil- und Elternzeit rechtlich korrekt abgewickeln, Stellenbesetzungsverfahren durchführen, Konzepte entwickeln. Aber hat wirklich die Personalabteilung allein die Deutungshoheit über gute Führung oder die Art und Weise, wie man miteinander redet ?
Dass nicht Mitarbeiter beraten, Bewerber gewonnen, Trends auf den Mehrwert für die internen Kunden hinterfragt und neue Arbeitsweisen mit den Beschäftigten zusammen getestet werden, liegt daran, dass sich das HRM nicht als interner Dienstleister, sondern noch häufig als Bewahrer und Steuerer versteht. Aus diesem Verständnis heraus, wird HR keinen Beitrag zur Arbeitswelt 4.0 liefern können.
Abwarten und ein „Weiter so“ sind keine Alternative. Die Digitalisierung geht nicht mehr weg. Es bedarf in den Personalabteilungen einer Auseinandersetzung mit den Trends der Arbeitswelt 4.0 mit Blick auf das eigene Unternehmen und dem Businessmodell. Dann kann HR Angebote machen und Bedarfe im Sinne des internen Marketings wecken. In diesem Augenblick ist HR Treiber.
Dafür sind aber auch die richtigen Personaler notwendig: Innovatoren und Querdenker, die man auch aushalten können muss. Neben der Einstellung braucht es die richtigen Qualifikationen im Hinblick auf das Internet der Dinge, Dienstleistungs- und Prozessmanagement, Trendforschung, Big Data, Controlling oder HR-Qualitätsmanagement. Selten eine Stellenanzeige im Personalmanagement, die ein solches Profil sucht. Und diese „Personaler 4.0“ müssen dann testen dürfen, inklusive der dafür notwendigen Fehlerkultur.
Fazit
Nochmals möchte ich klar stellen: Dieser Beitrag ist keine Ablehnung des „Arbeitens 4.0“. Ganz im Gegenteil. Und ich bin ausdrücklich ein Verfechter der Position, dass HR dabei eine besondere Rolle einimmt. Eine Chance, das Personalmanagement als Treiber, Dienstleister und „Mehrwertgenerierer“ zu etablieren. Aber ich wünsche mir auch eine differenziertere Diskussion des Themas – gerade, was die Rolle von HR angeht. Selbst wenn das Personalmanagement seine Hausaufgaben macht, sich vom Bewahrer zum Treiber wandelt, testet und experimentiert – wenn die Unternehmensleitung, die obersten Führungskräfte und die Mitarbeiter nicht von sich heraus bereit sind, die Ideen der Arbeitswelt 4.0 zu leben, wird es bei Hochglanzbroschüren bleiben.
Viele Grüße, Stefan Döring
Dieser Beitrag erschien zuerst auf personalblogger.net